
Manchmal fahre ich Straßenbahn. Zugegebenermaßen nicht sonderlich oft, aber manchmal passiert es eben doch. Denken Sie jetzt nicht, ich hätte prinzipielle Vorbehalte gegen dieses Fortbewegungsmittel. Im Gegenteil, ich finde die Straßenbahn an sich sehr nett. Dummerweise gibt es da aber noch die anderen Passagiere. Wer häufiger Fahrgast der städtischen Verkehrsbetriebe ist, weiß sicher, wovon ich rede.
Vor einer Woche war es wieder soweit. Ich stieg am frühen Morgen, völlig schlaftrunken, in die Straßenbahn ein und ließ mich auf einen Sitz fallen. Meine Äuglein waren noch zu einem rudimentären Sehschlitz geformt, als ich plötzlich bemerkte, dass die Resttodessehnsucht nicht die einzige war, die mir im Nacken saß. Freundlicherweise befand sich in der Reihe hinter mir nämlich auch der leicht korpulente Jüngling, der fröhlich an seinem Zwiebeldöner nagte und mir eine faulige Bäuerchensalve nach der anderen in die äußerst vulnerable Morgennase blies. Spontan war ich versucht, mich umzudrehen und mit einem Bäuerchen mit very sad ending zurückzugrüßen, beherrschte mich dann aber und vergrub mich in meine Zeitung.
Bis zur nächsten Haltestelle. Denn dort stiegen sie ein, die potentiellen Zahler unserer Pensionen, die Schüler. Etwa 1598 Zöglinge materialisierten praktisch gleichzeitig in der Straßenbahn. Lärmend, drängelnd und mit profunden Meinungen, eloquent vorgetragen bewaffnet. Die einzelnen Gesprächsinhalte waren ganz bestimmt nicht dazu gedacht, hier wiedergegeben zu werden. Daher belasse ich es bei dem Hinweis, dass der eher lasche Einsatz der Mundwerkzeuge und der beinahe völlige Verzicht auf Artikulation, gepaart mit dem ausnahmslosen Gebrauch von Nebensätzen und der stummen Übereinkunft, dass ein vollwertiger Gesprächsbeitrag nur ENTWEDER Subjekt ODER Prädikat beinhalten muss, den Vorteil einer gewissen Undurchsichtigkeit für den gezwungenen Lauscher mit sich bringt, der stark um seine Altersvorsorge bangt.
Es war bemerkenswert, dass sogar die Schüler selbst ihre Dialogfähigkeit als mangelhaft empfanden und, um dem entgegenzuwirken, zwar keine herkömmliche Körpersprache einsetzten, wohl aber ihre Körper sprechen ließen. Durch das fortwährende Schupfen und Raufen erhielt ich dieserart bald Gelegenheit, ein bekanntes physikalisches Phänomen, den Coanda-Effekt, experimentell zu überprüfen. Die Kinder drängten eine Frau mittleren Alters immer weiter in meine Richtung. Nach einem weiteren kräftigen Stoß bekam die Frau gerade noch rechtzeitig den Überkopfhaltebügel zu fassen und konnte so einen Sturz vermeiden. Natürlich sprang ich auf, um ihr Beistand zu leisten, stand dadurch aber deutlich näher bei ihr als mir lieb war. Unglücklicherweise hatte sie beschlossen, mir als Zeichen ihrer Dankbarkeit freudestrahlend ihre unrasierte Achsel zu präsentieren, in der sich einige Schweißtropfen gerade anschickten, die Newton’schen Fallgesetze zu bestätigen. Beim Anblick dieser äquatorialklimatischen Feuchtzone überkam mich neuerlich eine stramme Übelkeit. Zu meinem Ekel gesellte sich überraschenderweise eine gewisse wissenschaftliche Begeisterung, als ich sah, dass die Tröpfchen der Schwerkraft wacker trotzten und sich stattdessen ihren Weg entlang der Härchen bis hin zum T-Shirt der Frau bahnten und sich dort zu einem kleinen Toten Meer zusammenfanden.
Ganz sicher hätte ich dem Zwiebeljungen nun doch noch auf sein Kebab gekotzt, wäre ich nicht froh darüber gewesen, dass Coanda recht behalten hatte und fluide Substanzen nach wie vor dazu neigten, eng an der gekrümmten Oberfläche zu bleiben, über die sie hinwegströmen. Meine Freude über wissenschaftlich erhärtete Fakten wich jedoch alsbald dem Gram über die Einblendungen auf den Bildschirmen der Straßenbahn. Es gab geistlose Werbeeinschaltungen von Kosmetikfirmen zu bewundern, die versprachen, den Grand Canyon sicher und dauerhaft aus dem Gesicht der Anwenderin zu glätten. Nicht unerwähnt blieb die durchschlagende Erfolgsquote, und man verwies darauf, dass sich 0,2% aller Testerinnen innerhalb von nur einem Jahr mikroskopische Erfolge eingebildet hätten. Hin und wieder wurden die Collagen- und Carnitin-Verbraucherinformationen für die reife Haut durch Werbungen für Fahrschulen, Clubbings und zur Wahl stehende Politiker, deren Gesichter merklich an die „Vorher-Fratzen“ der Kosmetikfirmen erinnerten, unterbrochen.
Noch während ich mich fragte, warum heimische Politiker über ähnlich viel Gesichtsmimik verfügten wie Silvio Berlusconi, obwohl sie doch offensichtlich keinerlei Lifting hinter sich gebracht hatten, wurde ich von einem Unbekannten angesprochen, der aus unerfindlichen Gründen darauf bestand, meinen Fahrschein zu sehen. Mir wurde relativ schnell relativ warm. Der Dönerlehrling hatte mir doch tatsächlich derart den Sinn vernebelt, dass ich auf den Fahrschein einfach vergessen hatte. Da gab es nichts zu beschönigen. Ich entschuldigte mich und bot dem Kontrolleur an, einen reduzierten Fahrpreis zu bezahlen, der sich ergab, wenn ich die mir entstandenen Fahrkomforteinbußen abrechnete.
Der Mann wollte nicht mit sich handeln lassen. Stattdessen merkte er an, mein Fahrkomfort würde gleich noch erheblich mehr leiden, wenn ich nicht augenblicklich den vollen Fahrtpreis bezahlen würde. In Entgegnung verwies ich darauf, dass mein Fahrkomfort an der Achselfront bereits ihren absoluten Tiefpunkt erreicht hatte und begann über den Coanda-Effekt zu referieren.
Fünf Minuten später stand ich an der nächsten Haltestelle auf der Straße, mit einem obszön teuren Strafmandat der Verkehrsbetriebe in der Hand. Gestern habe ich die Strafe eingezahlt und auf dem Zahlschein angemerkt, dass ich die Summe zweckgebunden dafür zur Verfügung stelle, dass ein Straßenbahn-Limousinen-Service eingerichtet wird, bei dem der Fahrer in seiner Kabine bleibt und ich allein hinten sitzen kann. Ich hoffe die Minibar wird gut gefüllt sein.
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Da lob ich mir die Öffi’s der Deutschen: kein Döner, Gelatti oder klebriges Cola. Kinder werden in den Schulen so sehr in die Mangel genommen, dass sie auf dem Heimweg wie Zombies daher kommen und wer sein Bilettle vergessen hat wird sofort wegen Leistungserschleichung angezeigt.
Nunja, dafür können die Ösis besser Kuchen backen 😀