
Was Freunde betrifft, gibt’s ja solche und solche. Es gibt entfernte Bekannte, die man gerne mal als „Freunde“ bezeichnet, um vom eigenen trostlosen Dasein abzulenken und davon, dass man eigentlich ein Ungust‘l ist, mit dem sich niemand abgeben will. Dann gibt es aktuelle Freunde. Und schließlich sind da noch jene, mit denen man früher mal sehr innige Zeiten verbracht, man sich jedoch irgendwann aus den Augen verloren hatte.
Bert und Sina gehören dazu, Freunde aus längst vergangenen Tagen, die hin und wieder anriefen. Man traf sich dann und wann in einer Lokalität, eher mal dann irgendwann. Jetzt kam allerdings noch eine klitzekleine Sache erschwerend hinzu: Die beiden waren mittlerweile stinkend reich und sind in eine andere Stadt gezogen. Seither hatten wir uns nicht mehr gesehen. Man munkelt von einer Erbschaft. Das alleine ist ja noch kein Malheur, kann ja jedem passieren, außer uns natürlich, meinem Mann und mir. Allerdings hatten sie uns nun bereits zum wiederholten Mal übers Wochenende eingeladen. Sie wohnten etwa drei Autostunden entfernt und so konnten wir uns bis dato erfolgreich davor drücken. Nicht weil wir nicht wollten, im Gegenteil. Wir waren ja ganz gierig, deren Prachtbau von einem Haus, hinter vorgehaltener Hand spricht man von einem schlossähnlichen Gemäuer, einmal zu Gesicht zu bekommen. Doch das wäre diese Art der Einladung, die man niemals, unter keinen Umständen zurückgeben kann. Das wäre so, als würde man zu einem Urlaub ans Meer eingeladen und man selbst, als kleines Dankeschön, die Toilettengebühr für die Raststätte übernehmen.
Als Bert diesmal jedoch anrief, informierte er uns darüber, dass sie beide in Kürze das Land, ja unseren Kontinent für immer verlassen würden, und wenn wir uns nicht noch in diesem Monat treffen würden uns wahrscheinlich ganz lange nicht mehr treffen würden, wahrscheinlich erst wieder beim Begräbnis von einem von uns, und da würde ja wieder zumindest einer fehlen. Das überzeugte uns. Außerdem war somit die Gefahr gebannt, dass wir die beiden vor deren Abreise in unsere abgehalfterte Hütte bitten mussten…
Mit Google suchten wir eine Satellitenaufnahme von ihrem Haus. In der Straße reihte sich Punkt an Punkt, gefolgt von blauen Punkten, den Pools, und dann kam ein fetter Punkt, mindestens fünfmal größer als die Umrisse der umliegenden Gebäude. Wir schnappten nach Luft. Ich leerte meine halb gepackte Discount Reisetasche wieder aus. Damit konnte ich in diesem Haus nicht vorstellig werden. Man weiß ja, wie die Reichen sind. Ete petete, wir haben die Knete…
Am nächsten Tag kaufte ich mir einen wildledernen rehbraunen Trolly, mit seitlichem Henkeln. Sah zwar total künstlich aus, aber dafür teuer. War er auch. Mein Mann lachte nur, während er seine zerlumpte Tennistasche, wahrscheinlich aus Kindergartenzeiten, aufs Bett schmiss, zwei Shirts, eine Hose und eine Zahnbürste reinlegte. Er war da etwas unkomplizierter. Als er mir jedoch aus Platzmangel zwei Paar Socken mitgeben wollte, sagte ich entschieden nein!
Mittels GPS rollten wir nach drei Stunden Fahrt vor die eingetippselte Adresse. Dort war allerdings weder eine Hausnummer noch ein Haus zu sehen. Wir standen vor einer übermenschgroßen, grauen Betonmauer, wo gerade so etwas wie eine Tür erkennbar war. Sonst nichts. Ich zückte mein Handy und wollte auf diesem Weg Bescheid geben, dass wir da waren, als plötzlich eine Stimme ertönte. Ich klopfte auf mein Telefon. Hatte ich etwa schon gewählt? Da erkannten wir, dass die Stimme aus einer Miniöffnung im Betonpunker sprach.
„Hallo ihr beiden, kommt bitte herein!“ Gleichzeitig öffnete sich der Sesam. Ich zog meinen echten Kunstwildledertrolly hinter mir her und wir gingen den Weg entlang, der zum Haus führte, und zum Tor. Ja, das war keine Tür, das war ein Tor. Dort wartete Sina. Sie gab uns die Hand und führte uns ins Innere. Sehr förmlich, wie mir schien. Sina, die früher immer total aus dem Häuschen war, wenn sie Besuch empfing, alle bis zum Umfallen drückte, kindisch kicherte, laut fluchte. Irgendetwas an ihr war auch optisch anders, aber ich kam nicht drauf. Wir standen direkt im Wohnzimmer, eine Couch, ein kleiner Tisch, einige Sessel, zwei Schränke.
Na ja, schon recht groß, aber nichts Übertriebenes, sagte der Blick, den mein Mann und ich uns zuwarfen.
„Jetzt werde ich euch zunächst einmal einen kalten Schluck Champagner servieren“, sagte Sina. „Perignon war aus, jetzt gibt’s nur Veuve !“ Sie sagte „Wöff“, wie „Wuff“. Hatten sie denn einen Hund? Ich wollte mich gerade auf einen der Sessel niederlassen, als sich eine riesige Schiebetüre, die ich vorhin für ein Wandgemälde gehalten hatte, öffnete und den Blick in eine andere Dimension gewährte. Ach so, DAS war das Wohnzimmer!
Sina bat uns, uns zu setzen. Ich sah auf meinen neuen schwarzen Rock, ich zögerte, ich wollte die Couch nicht schmutzig machen, also platzierte ich mich an den Rand. Sina goss uns beiden etwas „Wuff“n in Kristallgläser ein. Aus denen mag man eigentlich nie trinken, aber wenn man reich ist, mag man wohl plötzlich andere Dinge. Sinas Fingernägel hatten diesen Glanz, der so künstlich war, dass er schon wieder echt aussah, und auf jedem war ein klitzekleiner Stein. Ein Diamant? Oh Mann, da wird das Nägelkauen teuer. Sie trug hochhackige Designerpumps, wie jene aus dieser Fernsehserie. Aquaplaning, Manoloplaning, oder was weiß ich, ich hatte ja überhaupt kein Planing. Und ich sah ein Kettchen um ihr Handgelenk gewickelt, wo ich eindeutig die Buchstaben YL erkennen konnte. Ich fühlte mich unwohl. Ja, genau so hatte ich mir das vorgestellt, als ich mir das alles vorgestellt hatte.
Während uns Sina nochmals offiziell willkommen hieß, kam Bert ins Zimmer. Bert, mit dem schütteren Hinterkopf, den abgeschmuddelten Jeans aus Studentenzeiten, hatte plötzlich Haare! Aha, also ein Haarimplantat. Na ja, wenn man sich’s leisten kann. Seine dünnen Beine steckten tatsächlich in einem Anzug und er trug eine Krawatte! Bert, der nicht mal die Hand seiner Liebsten am Hals ertrug. Auch er begrüßte uns sehr förmlich und fragte, ob wir eine angenehme Anreise gehabt hätten und ob uns Sina bereits unsere Räume gezeigt hätte. Er sagte Räume, nicht etwa Zimmer oder „die Couch des Nachbarn“. Tja, war klar, dass er jetzt so geschwollen redet, mit DEM Geld! Und natürlich waren mein Mann und ich jetzt sicher Menschen zweiter, nein, dritter Klasse für die beiden.
Verstohlen betrachtete ich Sina etwas genauer, was war es nur? Sie wirkte irgendwie, irgendwie… üppiger, aber nicht dick. Und dann erkannte ich es.
„Sina hat einen neuen Busen, gefällt er euch?“ Einige Sekunden Totenstille. Dann platzen Bert und Sina heraus, als sie meinen verdutzten Blick sahen. Mein Mann lachte ebenfalls. Allerdings sah ich gleichzeitig die unsichtbaren Spruchbänder über seinem Kopf leuchten, als er auf Sinas Dekolleté starrte, da stand eindeutig „Alter Schwede…!“, mit Tom Waits Betonung.
Bert hielt sich den Bauch vor Lachen. Da griff Sina unter ihre Bluse und holte zwei Silikonkissen heraus, die sie mir zuwarf. Jetzt war auch mein Mann erschrocken, da prustete ich heraus. Als Bert sich nun die Perücke vom Kopf zog, war es endgültig vorbei. Sina schlüpfte aus ihren Schuhen und pfefferte sie in die Ecke. „Endlich“, sagte sie, „die letzte Stunde war eine Qual!“ Bert riss sich die Krawatte vom Hals.
Nachdem wir uns alle beruhigt hatten, erzählten die beiden uns, dass ihnen die meisten Leute nun, da sie Geld hatten, recht seltsam begegneten. Einfach weil sie automatisch annahmen, dass sie sich jetzt übertrieben und aufgeblasen benehmen müssten. Und da haben sie sich gedacht, warum nicht das Vorurteil zu ihrem Vorteil ausnutzen und auch ein wenig Spaß haben. Es war übrigens keine Erbschaft, Bert hatte einfach einen beruflichen Bombencoup gelandet, einen Glücksgriff. Wer würde das nicht genießen?
Mir war peinlich, dass ich wohl auch „die meisten Leute“ war. Das Wochenende wurde eines der lustigsten, das wir in letzter Zeit erlebt hatten und eines der lehrreichsten.
Sina überreichte mir zum Abschied ihr Silikonkissen.
„Zur Erinnerung“, lachte sie.
Mein Mann wird sich wundern, wenn er bei seiner nächsten Besprechung die Aktenmappe öffnet…
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